Archiv für den Monat Juni 2016

„Dann wünschtest du also…“ – Nachtrag

Ein Nachtrag zu diesem Blogbeitrag: https://prideanddespair.wordpress.com/2014/11/23/dann-wunschtest-du-also-oder-alles-eine-frage-des-konjunktivs/

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Manchmal fördert das Studium der zwölfbändigen „History of Middle-earth“ erstaunliche Dinge zutage. In diesem Fall einen Beweis für meine Theorie, dass sich der berüchtigte Dialog zwischen Faramir und Denethor nicht etwa darauf bezieht, dass der eine den anderen gern tot sähe, wie es uns vor allem der Film suggeriert.

Im Band 8 der HoMe habe ich mir die Entstehungsgeschichte des betreffenden Kapitels („The Siege of Gondor“) einmal genauer angesehen und bin dabei auf einen älteren Entwurf besagten Gespräches gestoßen, der eindeutig zeigt, was Tolkien im Sinn hatte, als er diese Stelle schrieb.

Ich zitiere:

„Do you wish then,“ said Faramir, „that our places had been exchanged?“
„Yes, I wish that indeed,“ said Denethor. „Or no,“ and then he shook his head; and rising suddenly laid his hand on his son’s shoulder. „Do not judge me harshly, my son,“ he said, „or think that I am harsh. Love is not blind. I knew your brother also. I would wish only that he had been in your place, if I were sure of one thing.“
„And what is that, my father?“
„That he was as strong in heart as you, and as trustworthy. That taking this thing he had brought it to me, and not fallen under thraldom.“

Wenn ihr nicht (wie ich) im ersten Moment völlig irritiert von diesem netten Denethor seid, fällt euch wahrscheinlich auf, dass es hier eindeutig um den Moment geht, als Faramir die beiden Hobbits mit dem Ring ziehen ließ. In keinster Weise wird angedeutet, dass Faramir Plätze mit dem toten Boromir tauschen sollte. Denethor wünscht tatsächlich nur, dass sein älterer Sohn statt Faramir in Ithilien gewesen wäre, um den Ring nach Minas Tirith und (wie er denkt) in Sicherheit zu bringen. Und selbst diese Aussage nimmt er hier sofort zurück und ersetzt sie durch ein Loblied auf Faramir.

Was mich zu der Erkenntnis bringt, dass ich diesen ursprünglichen, „lieben“ Denethor aus den ersten Entwürfen nicht mag. Er ist höflicher zu Gandalf, nennt Faramir „my son“ und möchte diesen sogar daran hindern, zu der gefährlichen Mission aufzubrechen, die ihn letztendlich fast das Leben kostet.

Nein, irgendwie fühlt sich dieser weißgewaschene Denethor unecht an. Langweilig, beinahe. Er hat seine Geistesschärfe und seinen Sarkasmus eingebüßt und wirkt farblos. Die Komplexität, die ich an seinem Charakter so schätze, ist verschwunden und er wirkt irgendwie wie ein weniger kantiges Abbild von Théoden. Ohne das ganze Familiendrama ist er noch viel leichter zu übersehen als in der späteren Fassung und, ehrlich, auch ich hätte ihm keine weitere Beachtung geschenkt, wäre er uns im Herrn der Ringe so entgegengetreten.

Glücklicherweise kommt Tolkien nach mehreren Entwürfen mit Denethor als freundlichem alten Opi schließlich zu der Schlussfolgerung:

The early conversation of Faramir and his father and motives must be altered. Denethor must be harsh. He must say he did wish Boromir had been at Henneth Annûn – for he would have been loyal to his father and brought him the Ring. […] Then Denethor must be all for holding Osgiliath „like Boromir did“, while Faramir (and Gandalf?) are against it […].

This will not only be truer to previous situation, but will explain Denethor’s breaking up when Faramir is brought back dying, as it seems.

Danke, Tolkien. Danke, dass du uns den süßholzraspelnden Denethor erspart hast und wir in Die Rückkehr des Königs einen verbitterten, unfairen, arroganten Zyniker erleben dürfen, dessen tiefer Fall einen tatsächlich beschäftigt.

Danke dafür, dass du ihn verstehst und klarstellt, dass Denethor gerade deshalb von Faramirs Verwundung so betroffen ist, weil ihm aufgegangen ist, wie ungerecht er ihn behandelt hatte.

Und danke, für das nochmalige Erklären, worum es in dem Gespräch eigentlich ging. Damit wir es jetzt nun eindeutig und für alle Zeiten geklärt haben.

Kann jemand das an Peter Jackson schicken? 😀

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alle Zitate aus „The History of The Lord of the Rings, Part 3. The War of the Ring“ von J.R.R. Tolkien, herausgegeben von Christopher Tolkien. Erschienen 2002 by HarperCollinsPublishers, London.